Die Sterntaler

Das Sterntalermärchen ist sehr bekannt.  Sprichwörter wie: „Das letzte Hemd geben“ oder „Etwas fällt mir in den Schoß“ beziehen sich auf dieses Märchen. Wir werden sehen, was es damit auf sich hat.
Märchen wirken vor allem durch die Bilder, die sich beim Lesen entfalten, denn man kann sich auf die Bilder einlassen, weil man weiß, dass es nur fiktive Bilder sind. Gerade deshalb wirken sie tief auf der symbolischen Ebene. Hier geht es um ein sehr armes und verlassenes Mädchen. Man kann sich kein schlimmeres Schicksal für ein kleines Kind vorstellen, als von allen Menschen verlassen zu sein. Normalerweise würde der Selbsterhaltungstrieb des Kindes dafür sorgen, dass es versucht zu überleben. Hier aber tut es genau das Gegenteil. Es ist nicht die Aufgabe von Kindern, derartig altruistisch zu sein. Aber wir befinden uns ja in einem Märchen und deshalb verhält sich dieses Mädchen anders. Es gibt alles weg und man hat beim Lesen eigentlich nicht den Eindruck, dass es traurig dabei ist. Im Gegenteil, es hat Gottvertrauen. Der Prozess des Weggebens wird ausführlich geschildert. Es sind fünf Menschen, denen sie ihre letzten Habseligkeiten gibt. Und am Ende wird sie königlich belohnt. Aus tiefster Armut kann größter Reichtum werden.

Die Symbolik

Das „Mädchen“ ist ein Symbol für die göttliche Seele oder auch für die Anima als Seelenführerin. Manchmal taucht so ein Mädchen oder eine junge Frau in Träumen auf. Sie ist ein Archetyp, wir spüren dann beim Aufwachen, dass es ein besonderer Traum war.  
„Brot“ ist sprichwörtlich für Leben und Nahrung. Brot wegzugeben, jemanden zu nähren, kann bedeuten, dass man tatsächlich Essen weitergibt, aber auch sein Wissen, seine Expertise, seine Aufmerksamkeit und Unterstützung.
„Kleidung“ symbolisiert die eigene Person. Sie schützt, beschreibt und charakterisiert die Person, die sie trägt. Kleidung abzulegen bedeutet, sein Image, seine Identifikationen, Überzeugungen loszulassen.  
Der „Wald“ ist im Märchen immer ein seelischer Ort. Der Held oder die Heldin geht in den Wald, um dort eine Wandlung zu erfahren. Die Wandlung geschieht ganz im Stillen. Unsere Heldin gibt ihr letztes Hemd und ist nun niemand mehr. 
Dann fallen „Sterne“ vom Himmel und es geschieht eine Wandlung. Dieser spirituelle Segen bildet einen Reichtum, der bis ans Lebensende bleibt. Alle authentischen spirituellen Lehren erzählen von dieser Wandlung.

Wir haben hier also ein spirituelles Märchen. Es hat mit Moral nichts zu tun. Es zeigt – so wie alle Märchen – wie Menschsein geht. 



Die Sterntaler KHM 153

Es war einmal ein kleines Mädchen, dem war Vater und Mutter gestorben, und es war so arm, dass es kein Kämmerchen mehr hatte darin zu wohnen und kein Bettchen mehr darin zu schlafen und endlich gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte. Es war aber gut und fromm. Und weil es so von aller Welt verlassen war, ging es im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus ins Feld. Da begegnete ihm ein armer Mann, der sprach »ach, gib mir etwas zu essen, ich bin so hungrig.« Es reichte ihm das ganze Stückchen Brot und sagte »Gott segne dir`s« und ging weiter. Da kam ein Kind das jammerte und sprach »es friert mich so an meinem Kopfe, schenk mir etwas, womit ich ihn bedecken kann.« Da tat es seine Mütze ab und gab sie ihm. Und als es noch eine Weile gegangen war, kam wieder ein Kind und hatte kein Leibchen an und fror: da gab es ihm seins: und noch weiter, da bat eins um ein Röcklein, das gab es auch von sich hin. Endlich gelangte es in einen Wald, und es war schon dunkel geworden, da kam noch eins und bat um ein Hemdlein, und das fromme Mädchen dachte »es ist dunkle Nacht, da sieht dich niemand du kannst wohl dein Hemd weggeben,« und zog das Hemd ab und gab es auch noch hin. Und wie es so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel, und waren lauter harte blanke Taler: und ob es gleich sein Hemdlein weg gegeben, so hatte es ein neues an und das war vom allerfeinsten Linnen. Da sammelte es sich die Taler hinein und war reich für sein Lebtag.

Foto: Donnawetta Pixabay